Unter dem Motto:
„LAWINEN: WISSEN – BEURTEILEN – ENTSCHEIDEN
EINE STRATEGIE FÜR SKITOURENGEHER UND FREERIDER“
fand im Winter 2021/22 ein mehrtägiges Theorie- und Praxistraining statt. Hierzu ein Gastbeitrag und Bilder von Ansgar Grimberg
Schneebretter mit Schlafstörungen Von Ansgar Grimberg „Und nun zum Wetter. Der Deutsche Wetterdienst sagt für den bayrischen Alpenraum bei lebhaftem Wind bis zu 35 cm Neuschnee voraus…“. Was? Jungs, wir müssen raus. Aber halt, war da nicht was? Neuschnee, Wind, Skitour? Was die Kombination aus Neuschnee und Wind bedeutet, was Risse in der Schneeoberfläche und ein sattes „Wumm“ einem sagen sollten und dass Lawinenwarnstufe 2 nicht unbedingt besser ist als 3 – all das war Inhalt des Lawinenkurses beim SV Warngau. Es ist Dienstag, klirrend kalt. Ein gutes Dutzend Teilnehmer finden sich im Vereinsheim ein. Spartenleiter Alpin Tom Dauer, den ich bisher nur von Buchrücken her kannte – ich oute mich hier gleich als Neuling im Verein – stellt zwei Schachteln Semmeln auf den Tisch. Offenbar geht einer der beiden Initiatoren von einem intensiven Abend aus, bei dem ein paar Kalorien förderlich sein könnten. Dies bestätigt sich sogleich, nachdem Chris Semmel, der zweite im Bunde, uns über den Ablauf der zwei Tage Theorie und zwei Tage Praxis informiert. Am Ende des ersten Abends bin ich froh über die Semmeln: die im Magen und den, der uns in dreieinhalb Stunden die Grundlagen der Lawinenentstehung, Charakterisierung, Gefahrenklassifizierung etc. nähergebracht hat. Die Mannschaft ist bunt zusammengewürfelt. Alte Tourenhasen wie der Michi, Tiefschneesüchtige wie Maren und Skitourenneulinge wie Thorsten und Quirin. Altersmäßig bewegen wir uns zwischen 13 und Mitte 50. Alle also im gleichen Boot und erpicht darauf zu verstehen, warum wir uns nicht stumpf auf die Lawinenwarnstufe im Lagebericht verlassen sollten und ein Blick in die Historie einem durchaus den Allerwertesten retten kann. Chris, der im Hauptberuf angehenden Bergführern die Materie vermittelt, steht vorne am großen Monitor. Schnell wird klar, dass er das nicht zum ersten Mal macht. In mit Witz gespickter Seelenruhe, mal vortragend und mal zu Gruppenarbeit animierend, legt er das Grundgerüst, mit dem man sich von daheim ein erstes Bild der Lage machen kann. Schritt eins der lebenswichtigen, dreistufigen Vorbereitungen einer Skitour: Verhältnisse über den Lagebericht ermitteln und mit den Gegebenheiten der geplanten Tour auf der Karte abgleichen. Wo finden sich die Hänge mit 30 Grad Steilheit und mehr? Von wo kommt der Wind, wo sammelt sich der Triebschnee und in welche Klamm haut‘s einen rein, wenn tatsächlich was passiert und sich die Lawine Deiner annimmt und zu Tal befördert? Schritt zwei und drei folgen dann später, bereits vor Ort. Dabei können am Ende noch ganz andere Fakten auf den Tisch kommen, als es die blanke Theorie suggeriert hatte. Dazu aber später mehr. Zurück ins Vereinsheim, zurück zu Schritt 1, der Tourenplanung. Bei der zeigt sich am zweiten Abend, dass Chris ganze Arbeit geleistet hat. Zunächst frage ich mich, warum auf den Tischen Plastikmodelle stehen, weiße, geometrische, bergähnliche Gebilde. Hat Chris Kinder, frage ich mich, denn auf jedem der Berge scheint ein Kaugummi zu kleben? Ja, Chris hat Kinder (mittlerweile erwachsen) und nein, es sind keine Kaugummis. Es ist Knete, und mit deren Hilfe können wir die Problemzonen aus dem Lagebericht am Berg markieren. Die abstrahierte Form des Modells macht es einem dabei einfach, Hangneigungen über 30 Grad zu ermitteln – Smartphones sei Dank. An solchen Hängen schlafen die Lawinen, die bei ungünstiger Konstellation von z.B. Triebschnee und Schwachschicht bereits durch einzelne Tiefschneefreunde geweckt werden können. Das sollte man tunlichst vermeiden. Also heißt es, eine Linie für den Aufstieg und eine für die Abfahrt zu finden. Denkste, besser zwei, vielleicht sogar drei Linien. Auch das ist am Ende des zweiten Tages klar. Ohne einen Plan B kann es unter Umständen ziemlich eng werden. Denn auch der Tagesverlauf, vielmehr der Temperaturgang, kann den morgendlichen Powder durchaus in ein nachmittägliches Schneebrett mit Schlafstörungen verwandeln, das sich leider zwischen Gipfelkreuz und Weißbier befindet und eine Abfahrt zum Roulette werden lässt. Von der Theorie zur Praxis Wieder Donnerstagabend, allerdings zwei Wochen später. Von Tom flattern E-Mails rein mit Hinweisen zu den beiden Touren am folgenden Wochenende. Samstag über Wallberg und Setzberg am Plankenstein vorbei zurück in die Valepp. Am Sonntag aus der Sutten ins Spitzinggebiet. So der Plan. Und so auch die Aufgabenstellung für uns Teilnehmer: Lagebericht am Vorabend studieren und damit ein theoretisches Bild der Tour gewinnen. Macht die geplante Runde Sinn? Verlaufen die Aufstiegsspuren in sicherem Gelände und vertragen sich Ausrichtung, Hangform und -neigung der geplanten Abfahrten mit den vorhergesagten Bedingungen? Für unser Wochenende sind stürmischer Wind und damit ein ordentliches Triebschneeproblem angekündigt. Schnell wird daheim klar, dass es nun ernst wird mit dem Schritt aus der Theorie in die Praxis. Samstagmorgen. Langsam surrt die Wallbergbahn den Berg hinauf. Ohne die Gondel wären wir zu lange unterwegs, um in „interessantes“ Gelände zu kommen. Mit Gondel fast aber auch. Denn der Wind bläst arg und kurzzeitig ist nicht klar, ob die Bahn überhaupt in Betrieb geht. Oben angekommen zeigt sich, wie schnell sich die Planung von der Praxis entfernen kann. Der Wind hat dem Aufstiegshang hinter dem alten Wallberghaus ordentlich zugesetzt. Lawinen sind zwar nicht zu erwarten. Dafür liegen in der klassischen Aufstiegslinie eisige Stellen und freigeblasene Gras- und Felspassagen frei, was uns zu einer alternativen Aufstiegsführung zwingt. In einem Bogen weichen wir den heiklen Stellen aus und sind 30 Minuten später auf dem Setzberg. Der Wind bläst stark. Trotz der ungemütlichen Bedingungen nehmen wir uns die Zeit und werfen einen kritischen Blick in den Hang. Steilheit? Linie? Wo sind Sammelpunkte und was könnte gegebenenfalls passieren? Die Bedingungen stimmen und wir genießen nacheinander eine traumhafte Abfahrt. Man mag es kaum glauben, aber auch am Berg fährt man mit Abstand häufig am besten. Im Tal stecken wir erneut die Köpfe zusammen. Es lockt das Grubereck mit seinem Nordosthang hinunter zum Röthensteiner See. Der Aufstieg verläuft durch sicheres Gelände. Aber der Hang mit seinen Rinnen weist bestes Triebschneegelände auf. Zunächst sind wir uns unsicher. „Macht ihr euch langsam fertig und kommt dann zu mir. Ich lege derweil ein Schneeprofil frei“, sagt Chris und verschwindet über die Kante in den Hang, um nach einer Riesenfelge fünf Meter weiter unten zum Liegen zu kommen. Unter dem frischen Triebschnee versteckte sich ein schroffer Grat, der Chris unerwarteten Widerstand leistete. Auch das sind die Tücken der weißen Pracht. Das Schneeprofil offenbart eine ausgeprägte Schwachschicht im Altschnee, die in 40 Zentimeter Tiefe durchaus auslösbar ist. Das war dem Lagebericht nach nicht zu erwarten gewesen. Ein Glück, dass Chris sie mit seinem Salto mortale nicht getriggert hat. Wie war das noch mit dem Plan B? Immer gut, einen in der Tasche zu haben. Auch wenn wir ihn an dieser Stelle nicht brauchen. Wären keine frischen Spuren im Hang – ein brauchbarer Indikator für dessen Stabilität – hätten wir den Rückzieher gemacht und die Nordostflanke nicht weiter in Erwägung gezogen. So langsam wird uns klar, was es mit „interessantem“ Schnee auf sich hat. Es folgt ein letzter Gegenanstieg auf den Rauhenberg in gleißendem Sonnenlicht, mit nach wie vor heftigen Windböen. Der Blick in die Nordostrinne hätte nochmal spannend werden können. Enges Gelände, zwingend über 35 Grad - genau die Ausschlusskriterien des Lageberichts. Aber vor uns macht sich ein ordentlich zerpflügter Acker breit, der beim besten Willen nicht mehr auszulösen ist. Wir sind weder alleine am Berg noch die ersten an dieser Variante. Die Abfahrt ins Tal belohnt uns dennoch mit tollem Schnee und letzten Sonnenstrahlen. In Summe eine bunte Palette an Erfahrungen, die sich uns am ersten Tag bietet. Gekrönt von einem kalten „Russ“ mit Käsekuchen im Biergarten der Tegernseer Käserei – eine bunte Kombination, aber die absolut goldene Wahl.
Härtetest an der Bodenschneid Weniger wirtlich zeigt sich der kommende Tag. Schritt 1 der Planung, daheim über der Karte, hatte die Problemstellen eindeutig am Nordhang des Stolzenbergs verortet. Bis zu 40 Grad und eine ungünstige Exposition – Diskussionen und die Erfordernis eines Plan B waren offensichtlich. Dass die ersten Hürden aber bereits an der Mautstation der Valepp auftreten würden, war uns zuvor nicht klar gewesen. „Der Suttenlift läuft heute nicht. Zu viel Wind.“ Plan B? Aufstieg zur Bodenschneid. Der „interessante“ Schnee bringt heute zunächst einen regnerischen Aufstieg. Und die Bodenschneid hat sich zur Aufgabe gemacht, uns den Aufstieg ein wenig zu würzen. Auf den ersten Pistenmetern hätte man durchaus auch im Neopren eine gute Figur gemacht. Nach einem Waldstück ändert sich der Charakter dann schlagartig. Eisiger Wind und ein komplett windverpresster Südwesthang machen schnell klar, dass der „interessante“ Schnee heute hart erarbeitet werden muss. An dieser Stelle sei nochmal der Hut gezogen vor den Jungs, die auf einer ihrer ersten Skitouren Spitzkehren in echt unangenehmen Gelände und bei grausiger Witterung lernen mussten. 260 Höhenmeter unwirklicher Aufstieg. Sicherlich in keiner Sekunde lawinengefährdet. Aber genauso sicher ein unangenehmer Tanz auf wackeligen Latten. „Macht ihr euch langsam fertig und kommt dann zu mir. Ich lege derweil ein Schneeprofil frei.“ Diese Ankündigung kennen wir bereits. Und so startet Chris in den Hang Richtung Untere Firstalm. Wieder mit Stellen von 35 Grad, frisch eingeweht und unverspurt. Diesmal aber souverän und ohne Riesenfelge. Die kurze Sichtung des Hanges offenbart schnell, dass ein Schneeprofil mit so vielen Personen wenig Sinn macht. Also rein in die Abfahrt und hinunter in den Wald – immer allein bis zur Sammelstelle und das in traumhaftem Schnee. Die Diskussion vor Befahrung der Rinne zu den Gefahrenstellen und Anzeichen eines möglichen Lawinenproblems hat nach Abwägung die Entscheidung zugunsten der Abfahrt fallen lassen. Und dann ist da noch einer dieser Momente, in denen die Theorie in die Praxis transferiert wird. „Fahrt in Gruppen immer so, dass ein Erfahrener als letzter oben steht“, hatte Chris uns noch im Vereinsheim eingebläut. Und als gäbe es eine Choreografie, haut‘s gleich zwei von uns im Hang der Länge nach hin. Die Knochen zum Glück heil und auch kein Schneebrett auf dem Kopf, aber mit tief eingegrabenen Ski nicht mehr in der Lage, allein weiterzukommen. Ein Aufstieg vom tiefer liegenden Sammelpunkt hätte einiges an Zeit gekostet. Aber gut vorbereitet ist auch das letzte Lehrstück schnell angewendet und gemeistert. Der Rückweg erfolgt dann recht unspektakulär, dafür aber äußerst lecker und bärig (Lukas-Alm) über die Sutten. Wir sind happy, da wir vieles aus dem Vereinsheim an den Berg bringen konnten. Quirin bringt es schön auf den Punkt. „Auch wenn ich schon auf ein paar ersten Touren war, so sind diese beiden Touren zusammen mit dem, was Chris uns an Theorie zuvor beigebracht hat, für mich der beste Einstieg in diesen Sport.“ Was kann es Besseres geben als zu sehen, dass eine neue Generation von Schneeverrückten nachrückt.
Ein großes Dankeschön gilt an dieser Stelle dem SV Warngau, vor allem dem Tom, für die Bereitstellung des Vereinsheimes sowie die Organisation des gesamten Kurses. Und selbstredend dem Chris für viel Know-how am Puls der Zeit und nicht zuletzt viel Spaß. So ein Hammer-Kurs ist keine Selbstverständlichkeit – und schreit förmlich nach einer Wiederholung!